Textatelier
BLOG vom: 05.06.2022

Kolumnen: Neues aus der Hebelstraße, Folge II/2022

Autor: Wernfried Hübschmann, Lyriker, Essayist, Hausen im Wiesental

 

Der in Hausen im Wiesental, im „Hebeldorf“ (ein Schelm, wer hier an Werkzeug denkt!) wohnende Schriftsteller Wernfried Hübschmann schreibt seit einigen Monaten regelmäßig unregelmäßig Kolumnen für die lokale „Hausener Woche“. Wir bringen hier in losen Abständen einige Kolumnen von 2022.  Die erschienenen Texte ergänzen künftig das nachwachsende Textkraut und seine (Stil)Blüten. Viel Vergnügen!

 

*

Im Frühtau zu Berge
oder Die Berliner Stagnation

„Hier ist RIAS Berlin. Eine freie Stimme der freien Welt.“ So meldete sich lange Jahre der Rundfunk im amerikanischen Sektor, kurz RIAS. Er wurde erst 1993 aufgelöst. Damals wie heute standen mir im Frühtau die Haare zu Berge. Berlin war lange eine Insel. „Der Insulaner“ hieß das berühmte Trümmerstadt-Kabarett mit Günter Neumann. Die Situation, die durch den Viermächte-Status ab 1945 entstanden war, führte zu einem ganz eigenen Berliner Lebensgefühl.  „Wer jetz‘ noch lebt, is selba schuld. Bomben sind jenuch jefallen“, so klang der trotzige Berliner Witz nach den Schrecken des Krieges. „Ihr Völker der Welt, schaut auf diese Stadt!“, rief 1948 der Regierende Bürgermeister Ernst Reuter über den RIAS. Nach dem Aufstand von 1953 und mit dem Mauerbau 1961 war die Tür dann plötzlich zu. „Niemand hat die Absicht, eine Mauer zu errichten“, quäkte Walter Ulbricht noch wenige Tage zuvor.

Nun sitze ich bei meinen Freunden, 80 Meter von der runderneuerten Charité entfernt, dem größten Krankenhaus Europas. Die Bettlerin kauert zwischen LIDL und Apotheke, ein nine-to-five-Job, auch am Samstag. Sonntags hat sie frei. Es ist ihr Arbeitsplatz. Der junge Mann an der Treppe zum Bahnhof Friedrichstraße trotzt Wind und Wetter in seinem schmutzigen Schlafsack. Auch er ein preußischer Ikarus. Manchmal fliegt im Sturm sein DANKE-Schild hinüber zur „Ständigen Vertretung“. In den S- und U-Bahnen spielen kleine Combos fetzige Musik und lassen den Becher rumgehen, auch der aus Pappe. Der Sturm Zeynep legt den Zugverkehr lahm. Ich komme nicht weg aus dieser kalten Kapitale. Es regnet. Man muss sogar den Himmel trösten. Gestern war ich schon mit Sack und Pack am Hauptbahnhof (früher Lehrter Bahnhof). Meine Verbindung nach Süden war kurz zuvor gecancelt worden. Bin ich jetzt der Leiermann? Wenn ich mich hier auf den Boden setzte, wieviel hätte ich heute Abend verdient? Wir leben auf dünnem Eis, obwohl es gar keine Winter mehr gibt. Die CIA sagt den Einmarsch russischer Truppen in die Ukraine voraus. Der Orkan hat Fahrräder und Mietroller, die kreuz und quer auf den Trottoirs standen, zu Boden geworfen wie Pappkameraden. Ein Schlachtfeld jetzt. Werbeaufsteller fliegen durch die Luft. Aus einem geöffneten Fenster tönt Edith Piaf. Nein, ich bereue nichts. Ich hab‘ ja noch einen Koffer in Berlin.

Nix für ungut!
Ihr Berlin-Reporter Wernfried Hübschmann

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